Die schweizerische Rechtssprache

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Die schweizerische Rechtssprache

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Warum ist es für Jurist*innen hierzulande in der Praxis so wichtig, sich mit den Rechtsbegriffen nicht nur in ihrer Muttersprache auseinanderzusetzen?

Prof. Hansjörg Peter: Die allererste Interpretationsmethode des schweizerischen Rechts ist die grammatikalische. Alle Texte sind gleichwertig: der deutsche, der italienische und der französische. Für Jurist*innen aus den einsprachigen angrenzenden Länder ist es oft schwierig, dies zu erfassen. Eine Dissertation etwa ist nicht seriös, wenn die Verfasserin oder der Verfasser den Gesetzestext nicht in allen drei Sprachen angeschaut hat. Dasselbe gilt für die juristische Praxis: Eine Anwaltsarbeit oder eine Eingabe ist eigentlich auch nicht seriös, wenn die Nuancen der einzelnen Sprachen nicht berücksichtigt werden.

Haben Sie ein konkretes Beispiel, um die Bedeutung des mehrsprachigen Wortschatzes zu veranschaulichen? 

Prof. Hansjörg Peter: In Art. 82 Abs. 2 SchKG heisst es auf Deutsch: «Der Richter erteilt die provisorische Rechtsöffnung, sofern der Schuldner nicht die Einwendung macht.» Der klassische Begriff der Einwendung hat sich im 19. Jahrhundert herausgebildet. Einwendung meint eine Tatsache, die Treu und Glauben widerspricht und die der Richter von Amtes wegen berücksichtigt. Unzurechnungsfähigkeit, Minderjährigkeit, Irrtum, Täuschung, Drohung usw. macht man mit einer Einwendung geltend. Im italienischen Text steht: «delle eccenzioni». Also Einrede. Sie ist ein Verteidigungsmittel der beklagten Person, die Kraft Einrede ein Recht geltend machen kann, wenn sie will. Der Richter berücksichtigt es nur, wenn es geltend gemacht wird. Der Unterschied in der Terminologie ist eklatant. Darum zieht man den französischen Text zurate, der «vraisemblable sa libération» lautet. Diese «Befreiung» umfasst beides: Einwendung und Einrede. Der genaue Sinn dessen, was der Gesetzgeber wollte, wird nur erfasst, indem man alle drei Sprachen liest. Hier kommt man zum Schluss, dass der Gesetzgeber die Einwendung sowie die Einrede berücksichtigen wollte, sprich das, was in der französischen Formulierung ausgedrückt wird.

Bei der Interpretation liegt Schwerpunkt im Theoretischen. Ist es in der praktischen Anwendung ähnlich wichtig?

Prof. Hansjörg Peter: Auf jeden Fall. Gelangt eine Anwältin oder ein Anwalt zum Beispiel vor eine eidgenössische Rekurskommission oder das Bundesgericht, das Bundesveraltungsgericht oder das Bundesstrafgericht, wird das Endurteil stets in der Sprache verfasst, in welcher das Verfahren anfing. Prozessleitende Entscheide, Verfügungen, Beweisauflagen, Friststellungen für Eingaben usw. können jedoch in jeder Amtssprache erfolgen. Das muss man wissen und damit umgehen können.

Unsere Alltagssprache verändert sich, getrieben unter anderem von der Digitalisierung oder dem Einfluss des Englischen. Merken Sie das auch in der Rechtssprache?

Prof. Hansjörg Peter: Ja und nein. Die Rechtssprache hat sich schon immer weiterentwickelt, da das Recht eine Funktion der sich wandelnden Gesellschaft ist. Diverse Rechtsinstitute wurden erst mit der Zeit eingeführt und brauchten ein neues Vokabular. Ebenfalls trifft das auf Rechtsbereiche zu, welche es zwar in bescheidenerem Masse bereits gab, die aber wegen der wirtschaftlichen Umstände relevanter wurden. Das Interessante und das Schwierige liegt darin, dass man im Deutschen neue Wörter einfacher bilden kann, etwa indem zwei Substantive zusammengestellt werden. Auf Französisch erlaubt das die Struktur der Sprache eben nicht. Dort sind Umschreibungen nötig. Und als Autor eines Rechtswörterbuches frage ich mich dann, unter welchen Buchstaben die Umschreibung einzuordnen ist. Englische Ausdrücke fliessen dann in einen Gesetzestext ein, wenn der zu regelnde Bereich damit gespickt ist, etwa im Datenschutz-, IT- oder Finanzmarktrecht. Als Professor für Römisches Recht hat mich amüsiert, dass wir den Begriff Leasing zwar aus dem Englischen übernommen haben, das entsprechende Institut aber bereits dem römischen Recht bekannt war. Was auch eine Überlegung wert ist: Durch unsere Regelungsflut werden zum Beispiel im Tierschutzrecht oder im Umweltschutzrecht diverse «normale Begriffe» berücksichtigt. Kürzlich sinnierte ich über die Verordnung über den Eiermarkt. Ist das Ei ein juristischer Begriff oder nicht? Oder der Wald? Und haben solche Worte in einem  Wörterbuch der schweizerischen Rechtssprache etwas verloren, nach dem Motto: Alles ist Recht.