Die 70-Prozent-Kanzlei

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Die 70-Prozent-Kanzlei

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Ist Erfolg ein Vollzeigeschäft?

Dem Wunsch nach Teilzeitarbeit haftet in den Führungsetagen von Kanzleien noch immer ein Makel an. Dies zeigt, wie tief verwurzelt die traditionellen Vorstellungen in unserer Branche sind, wonach berufliches Engagement und Teilzeitarbeit unverändert für nicht kompatibel erachtet werden – bei Männern noch mehr als bei Frauen.

Von einem zielstrebigen, erfolgsbewussten Individuum wird erwartet, dass es sich selbst und seine Arbeitskraft vollständig in den Dienst der beruflichen Tätigkeit stellt und private Bedürfnisse hintenanstellt. Ist es hierzu nicht bereit, hat es auf der Karriereleiter nichts zu suchen. Gerade Akademiker entscheiden sich oft so um die dreissig dafür, eine Familie zu gründen. Damit fällt die Sorge für die Kinder just in jene Zeitperiode, die für den Aufbau einer Karriere entscheidend ist. Auf den Websites der mittleren und grossen Kanzleien zeigt das Verhältnis von Männern und Frauen zunächst bei den Associates und dann in der Partnerschaft deutlich, wer von beiden karrieremässig zurücksteckt. In den Unternehmen sieht es nicht anders aus. Das ist bedauerlich. Folgerichtiger wäre es, wenn beide Elternteile ihr Arbeitspensum reduzierten, sich gemeinsam um die Kinder kümmerten und gleichzeitig ihre jeweiligen beruflichen Laufbahnen weiterverfolgten.

Die normative Kraft des Faktischen

Ob die Geschäfte einer Grosskanzlei auf gleichem Niveau mit gleichem Erfolg weitergeführt werden könnten, wenn ein Teil der Partner oder sogar alle Partner nur 70 Prozent arbeiten würden, dazu gibt es keine empirischen Studien. Es gibt aber eine überwältigende Flut von Literatur, die sich mit Teilzeitarbeit, Vereinbarung von Familie und Beruf, Förderung von Frauen in der Führungsebene etc. beschäftigt. Auch statistisches Zahlenmaterial ist zur Genüge vorhanden. Pro und Contra werden nahezu gebetsmühlenartig diskutiert, jedoch kann keine Seite ihre Argumente belegen.

Da diejenigen, die eine Teilzeitarbeit ablehnen, nach wie vor diejenigen sind, die in den Kanzleien und Unternehmen mehrheitlich das Sagen haben, können sie ihre Position durchsetzen. Dadurch erhalten die Befürworter nie die Möglichkeit zu beweisen, dass es tatsächlich auch mit Teilzeitmodellen geht – vielleicht sogar auf höherem Niveau und erfolgreicher: Denn wenn die Arbeit auf mehrere Köpfe verteilt wird, weitet sich das Netzwerk aus, was die Akquisition begünstigt.

Blick in andere Branchen

Einer, der die Möglichkeit erhalten hat, zu beweisen, dass es geht, ist Cawa Younosi, seit 2015 Personalchef für Deutschland von SAP und in dieser Position verantwortlich für rund 23 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. SAP, der weltweit drittgrösste Software-Konzern schreibt seit 2018 Führungspositionen nur noch als Teilzeitstellen aus. Nach einem Jahr war das Pilotprojekt so erfolgreich, dass es auf den Gesamtkonzern ausgedehnt wurde.

Es gibt weitere interessante Beispiele von Unternehmen, die ihre Arbeitszeit dauerhaft für alle Mitarbeitenden einschliesslich der Geschäftsleitung gesenkt haben. So sorgte die neuseeländische Beratungs- und Vermögensverwaltungsfirma Perpetual Guardian für weltweite Schlagzeilen, als sie 2018 die Vier-Tage-Woche einführte. Der Gründer des Unternehmens hatte seinen Mitarbeitenden offeriert, die Arbeitszeit von fünf auf vier Tage zu reduzieren bei gleichbleibendem Lohn. Bedingung: die Mitarbeitenden erbringen dieselbe Leistung, was bedeutete, dass sie ihre Produktivität steigern mussten. Die Mitarbeitenden erarbeiteten in der Folge Strukturen und entwickelten Konzepte, um das neue Arbeitszeitmodell in die Praxis umzusetzen. In einem achtwöchigen Pilotversuch mit wissenschaftlicher Begleitung wurde das Modell anschliessend getestet. Und: Der Versuch war ein Erfolg mit gleicher Leistung und niedrigerem Stresslevel, verbessertem Teamwork und höherer Jobzufriedenheit. Der Einbezug der Mitarbeitenden (Stichwort Eigenverantwortung) in die Findung von Lösungen, wie die Klienten weiterhin bestmöglich bedient und gleichzeitig Massnahmen zur Steigerung der eigenen Produktivität entwickelt werden können, war ein entscheidender Erfolgsfaktor.

Die 70-Prozent-Kanzlei

Warum 70 Prozent? Wenn alle in Teilzeit arbeiten, wird zwangsläufig niemand mehr aus diesem Grund in seiner Karriere behindert oder sonst wie benachteiligt. Die freien 30 Prozent oder mehr können je nach Bedürfnis genutzt werden. Eine Arbeitszeit von 70 Prozent bedeutet ein Pensum von dreieinhalb Tagen pro Woche, sodass z.B. beide Partner die Kinderbetreuung untereinander aufteilen können, ohne dass eine Fremdbetreuung notwendig ist. Mit einer Reduktion des Arbeitspensums soll auch dem zunehmenden Phänomen von Burn-out und Depression entgegengewirkt werden.

Es ist gut möglich, gemeinsam an einem Mandat oder spezifischen Teilen davon zu arbeiten, sodass der Mandant auch in dringenden Fällen immer einen Ansprechpartner hat. Dank Smartphones sind wir ohnehin in dringenden Fällen immer und überall erreichbar und haben Zugriff auf E-Mails und Dokumente. Denkbar ist auch eine projektbezogene Aufteilung der Arbeitszeit, indem während der Dauer eines Projekts voll daran gearbeitet und die freie Zeit danach am Stück bezogen wird.  

Salärmässiger Ausgleich der Reduktion

Wenn die Produktivität gesteigert wird, könnte der finanzielle Ausgleich so aussehen, dass der Lohn um lediglich 10 bis 15 Prozent reduziert würde. In diesem Zusammenhang wäre auch zu prüfen, ob sich nicht ein Übergang vom System der verrechenbaren Stunden hin zu einer wertebasierten Abrechnung anbieten würde. Ein Trend, der ohnehin bereits in Gang ist. Tatsächlich wäre dies der direkteste Weg, die Arbeitszeit zu reduzieren, ohne dass die Einnahmen sinken. Zugegebenermassen bedeutet dies einen gewaltigen Kulturwandel. Im Zeitalter disruptiver Technologien werden wir uns aber wohl auch in dieser Hinsicht an die Klientenbedürfnisse und den Markt anpassen müssen.

Teilzeitarbeit und Kanzleigrösse

Die Tendenz ist eindeutig, je grösser die Kanzlei, desto geringer die Bereitschaft, eine Teilzeitpartnerschaft zu akzeptieren. Offeriert wird bestenfalls der Status eines Counsels. Der Verlust fähiger Anwältinnen, meistens sind die Betroffenen Frauen, wird in Kauf genommen, oder es wird erst reagiert, wenn es schon zu spät ist. Kleine und mittlere Strukturen sind Teilzeitarbeit gegenüber auch auf Partnerebene offener eingestellt. Oder die Person wagt den Sprung und macht sich selbständig. Es gibt viele Kleinstkanzleien, die äusserst lukrativ arbeiten: Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen verdienen bei einer Arbeitszeit von 70 Prozent mehr als zuvor als Associate einer Grosskanzlei mit Vollzeitpensum.

In Grosskanzleien braucht es folglich die Bereitschaft und das Vertrauen der Partnerschaft, die angestellten Anwältinnen und Anwälte umfassend in den Change-Prozess miteinzubeziehen und eigenständige Lösungen entwickeln zu lassen. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird es in den nächsten Jahren zu einem Fachkräftemangel kommen, der auch die Anwaltsbranche betreffen wird. Da das Know-how der Associates und der Partnerschaft bekanntlich zu den wichtigsten Wettbewerbsfaktoren zählt, sind Kanzleien gut beraten, wenn sie schon heute vorsorgen und sich als attraktive Arbeitgeber positionieren. Je jünger die Anwältinnen und Anwälte sind, desto grösser ist die Bedeutung, die sie einer funktionierenden Work-Life-Balance zumessen. Der Lohn ist daneben zweitrangig. Potenziale liegen sicher in einer Erhöhung der Teilzeitpensen nicht nur für Frauen, sondern massgeblich auch für Männer oder eben in Modellen wie der 70-Prozent-Kanzlei oder der 4 Day Week.